Tungevaag: „Ich habe keine Angst, um Hilfe zu bitten“

Tungevaag: „Ich habe keine Angst, um Hilfe zu bitten“

Mit Songs wie „Wicked Wonderland“ zählt Tungevaag zu einem der vielversprechendsten Talente in der EDM-Welt. Da ist es kein Wunder, dass der Norweger im vergangenen Jahr Platz 81 im DJ Mag Top 100 DJs Voting erreicht hat. Wir haben mit ihm über die Entwicklung seiner Karriere, Teamwork sowie DJ-Klischees gesprochen.

Tungevaag im exklusiven DJ Mag Germany Interview

Hey Martin! Danke, dass du dir für das Interview Zeit nimmst. Wie geht es dir?

Tungevaag: Hey, mir geht es sehr gut! Jüngst habe ich meine Sommersongs „Sunrise“ und „Lonely Hearts“ releast und aktuell bin ich viel on tour.

Hört sich super an! Bleibt dir bei den ganzen Live-Auftritten eigentlich noch Zeit für das Musikproduzieren?

Tungevaag: Ich würde sagen, es ist immer Zeit, neue Musik zu machen, wenn man sich wirklich dafür begeistert. Ich kann meistens auch nicht lange warten, wenn es einen Song gibt, den ich fertigstellen möchte. Oft vergesse ich zu essen und kann stundenlang von meinen Musikprojekten und Ideen besessen sein. Zum Glück habe ich mein Studio zu Hause, sodass ich einen kurzen Weg habe. Wenn ich unterwegs bin und ein paar Ideen habe, nehme ich die Melodien und Ideen auf meinem Handy auf und probiere sie aus, sobald ich Zeit habe.

Du bist in den DJ Mag Top 100 DJs platziert, erhältst Awards und produzierst Collabs mit anderen namhaften DJs der Szene, während du auf allen großen Festivals und Bühnen der Welt spielst – kann man sagen, dass viele Menschen darin interessiert sind, solch eine Karriere wie du aufzubauen? Kannst du uns ein bisschen erzählen, wie du damals in der Musikindustrie angefangen hast?

Tungevaag: Zweifellos ist das der Traum vieler Menschen. Ich habe mein erstes Musikprogramm vor 15 Jahren heruntergeladen. Es war aber eher Zufall, dass ich Künstler/DJ geworden bin. Einige meiner Freunde und ich haben in der Schule viel Musik gehört. Ein paar der Songs, die wir hörten, hatten Passagen, die uns nicht gefielen, also habe ich ein Programm downgeloadet, um diese herauszuschneiden und die Lieder zu rendern. Das hat so viel Spaß gemacht, dass ich dieses Programm jeden Tag weiter erforscht habe. Während dieser Zeit entstand dann das Ziel, meinen eigenen Song zu machen und das habe ich geschafft. Daraufhin folgte der Wunsch, dass die Leute meine Musik hören und sie im Radio spielen. Auch das habe ich geschafft. Bei einem Wettbewerb des größten norwegischen Radiosenders (NRK) gewann ich 2013 den „besten Party-Song“. Der Preis war Radio-Support für einen Monat. Im Jahr darauf habe ich erneut gewonnen und der Track schaffte den Einstieg in die Charts, sodass das Radio ihn monatelang spielen musste. Obwohl ich zu diesem Zeitpunkt bei keiner Plattenfirma unter Vertrag stand, habe ich dadurch viel Aufmerksamkeit im Business gewonnen und somit entdeckten mich dann auch die Labels. Sony Music, Warner Music und Universal Music – alle schickten mir Anfragen.

Früher vs. heute: So sehr hat sich der Musikmarkt und das Produzieren für Tungevaag geändert

Wie hat sich die DJ- und Produzentenlandschaft in den vergangenen Jahren entwickelt? Was ist deiner Meinung nach der Schlüssel, um in der heutigen Szene und Zeit relevant und erfolgreich zu bleiben?

Tungevaag: Aktuell gibt es eine Menge inspirierender Produzenten und DJs, die neue Sounds machen und die EDM-Szene in neue Richtungen bringen. Es ist sehr wichtig, einen eigenen Sound zu haben, um relevant zu bleiben. Das ist aber auch nicht immer einfach und es ist vor allem nicht einfach, als neuer Produzent oder DJ in dieser Zeit wahrgenommen zu werden. Es gibt so viel Konkurrenz und Musik, die jeden Tag von Künstlern veröffentlicht wird. Als ich anfing, gab es kaum Online-Tutorials und es war in den Anfängen der Streaming-Dienste, an die wir uns heute sehr gewöhnt haben. Für Anfänger war es auch noch schwieriger, Musik zu machen. Man musste sich alles selbst aneignen oder jemanden, der Musik macht, um Hilfe und Rat fragen. Heute, im Jahr 2023, kann man alles online finden und es ist viel einfacher zu lernen, wie man Musik produziert und wie man die verschiedenen Musikprogramme bedient.

Hast das Gefühl, dass die Zeitspanne, in der ein Künstler relevant bleibt, heutzutage immer kürzer wird?

Tungevaag: Definitiv. Die Leute haben immer weniger Geduld. Das sieht man allein an der Länge der Musiktitel und Videos. Unsere Gesellschaft hat sich so entwickelt, dass ständig etwas passiert und wenn wir zu viel von etwas haben, gehen wir zu etwas Neuem über. Ich hatte das Gefühl, dass ein Künstler früher jahrelang das Gleiche machen konnte und trotzdem Aufmerksamkeit bekam und interessant blieb. Jetzt erwarten die Fans, dass mehr einzigartige Dinge passieren, wenn der Künstler länger relevant bleiben soll.

Wie wir schon festgestellt haben: Die Technologie hat einen massiven Einfluss auf die Musikproduktion und das DJ-Dasein. Welche Tools oder Plattformen sind für dich in deiner Karriere unverzichtbar geworden?

Tungevaag: Sample Packs von KSHMR. Ich glaube, ich habe seine Samples seit 2015 in jedem Track verwendet. Ich spreche von den verschiedenen Drum- und FX-Samples (Kick, Clap, Hi-Hat, Ride, Cymbals, Sweeps und so weiter). Als ich 2008 anfing, habe ich überall im Internet nach Samples gesucht, sie hier und da heruntergeladen und in Hunderten Ordnern organisiert. Jetzt ist es so viel einfacher mit den verschiedenen Online-Sample-Bibliotheken wie Splice, wo man (fast) alles, was man braucht, an einem Ort hat.

Du hast schon einige Songs mit Timmy Trumpet, KSHMR, Alan Walker, Kid Ink und vielen anderen großartigen Künstlern releast. Kannst du von deinen Erfahrungen bei der Zusammenarbeit mit anderen Künstlern berichten und wie diese Kollaborationen deine Musik und Karriere beeinflusst haben?

Tungevaag: Ich finde, Collabs machen super viel Spaß! Man kann viel voneinander lernen, seinen Sound kombinieren und die Karriere beider Künstler vorantreiben. Bei vielen Kollaborationen, die ich früher gemacht habe, hatte ich noch nicht einmal ein Management. Dadurch habe ich auch viel über das Musikgeschäft und Strategien gelernt, da ich selbst mit dem Management und dem Team des anderen Künstlers in Kontakt bleiben und an den Treffen teilnehmen musste. Ich hielt es für sehr interessant, Erfahrungen zu sammeln, die über das bloße „Musik machen und veröffentlichen“ hinausgegangen sind und Teil des gesamten Prozesses von A bis Z zu sein.

Tungevaag: „Viele Produzenten haben mich am Anfang ignoriert“

Manche Künstler zögern, um Rat bei anderen zu erfragen. Wie war das bei dir in deiner Karriere? Kannst du uns von der Zeit erzählen, in der du um Hilfe gebeten und wie sich das auf deine Arbeit ausgewirkt hat?

Tungevaag: Schon zu Beginn meiner Karriere habe ich Leute um Hilfe gebeten. Es war aber sehr schwer, Hilfe zu bekommen, wenn man eine Künstlerkarriere anstrebt, aber keinerlei Kontakte oder ein Team um sich herum hat. Keiner meiner Freunde hat damals Musik gemacht oder war ein guter Sänger, also kontaktierte ich einige Sänger, die ich im Internet gefunden hatte, aber fast niemand antwortete mir, da ich gerade erst angefangen hatte, Musik zu machen und ihnen nichts von meiner bisherigen Arbeit zeigen konnte. Schließlich fand ich eine Sängerin, die auf meinem Track singen wollte, und ich zahlte ihr ein Honorar. Den Song habe ich dann auch veröffentlicht. Die Produktion war allerdings überhaupt nicht gut, also wandte ich mich an einige Produzenten, die ich sehr mochte. Sie interessierten sich überhaupt nicht für mich und wollten mir nicht helfen. Die meisten von ihnen ignorierten mich.

Spulen wir aber mal vor bis heute. Ich habe Musik, die Milliarden von Menschen gehört haben – jetzt kommen die Leute zu mir und fragen, ob ich Hilfe brauche, schicken mir Vocals/Toplines, Produktionen, fragen nach Kollaborationen und so weiter. Das hat sich definitiv geändert. Aber ich habe keine Angst, immer noch um Hilfe zu bitten. Wenn es in meinen Produktionen etwas gibt, bei dem ich denke, dass mich jemand unterstützen kann, dann bitte ich um Hilfe. Wenn das Mixen und Mastern nicht gut genug ist, bitte ich einen Freund um Hilfe. Die Leute, die man um sich herum hat, sind sehr wichtig, und ich betrachte das Ganze als ein Team. Das ist wie bei einem Fußballspiel: Die Spieler haben ihre individuellen Fähigkeiten, aber gemeinsam arbeiten sie an der gleichen Sache und dem gleichen Ziel als Team.

Meiner Meinung nach wird in der Branche zu viel darüber geredet, dass die Künstler alles selbst machen sollten. Jüngere Produzenten und DJs hören auf das, was wir sagen und das kann sie unsicher machen, ob sie um Hilfe bitten oder „diesen Track“ produzieren und dabei alles selbst machen sollen. Also denkt immer daran, eure Kontakte und euer Netzwerk zu nutzen!

Was würdest du sagen: Ist es überhaupt noch möglich, eine Karriere von der „Schlafzimmerproduktion“ bis zur Mainstage von Tomorrowland, Ultra und so weiter aufzubauen, ohne von einem großen Team und vielen helfenden Händen umgeben zu sein?

Tungevaag: Ja. Wenn man etwas wirklich will und hart arbeitet, ist es möglich. Du kannst einen Track machen, der super gut ist und du kannst schnell eine Menge Aufmerksamkeit erzielen. Aber dieser Track muss herausragend und einzigartig sein. Wenn du einfach nur alle anderen kopierst und genau das tust, was alle anderen tun, wird es heutzutage fast unmöglich sein, ohne ein Team vom Anfänger zum Top-Produzenten/DJ zu werden. Tipp: Konzentriere dich auf Melodien. Melodien sind so wichtig und meiner Meinung nach das am besten erkennbare Element in einem Song.

Wie lauten deine wichtigsten Ratschläge für aufstrebende DJs, die ihre Karriere aufbauen wollen?

Tungevaag: Sprich mit anderen Produzenten und DJs, baue ein Netzwerk auf, arbeite so viel wie möglich an Musik und probiere verschiedene Dinge aus. Finde heraus, wie du am besten arbeitest und was du gut kannst. Wenn du nicht mixen und mastern kannst, konzentriere dich auf Melodien, Akkorde und diese Elemente und bitte jemanden, dir bei der Produktion zu helfen. Vielleicht ist ein Freund von dir besser in den Dingen, in denen du nicht so gut bist, und andersherum. Du brauchst keinen Mentor; du kannst deine Freunde nach ihrer Meinung zu deiner Musik fragen. Letztlich gilt aber: Wenn du an etwas glaubst, höre nicht zu sehr auf andere – mach es einfach.

Tungevaag über Mental Health und DJ-Klischees

Das Thema Mental Health ist in der Musikindustrie immer mehr in den Vordergrund gerückt. Wie bist du mit dem Druck und den Anforderungen deiner Karriere umgegangen und auf welche Art von Unterstützung verlässt du dich?

Tungevaag: Mach Social-Media-Pausen. Nimm dir einfach ab und zu eine Woche ohne soziale Medien, E-Mail, Chat-Apps usw. Ich mache das genauso und es fühlt sich so gut an. Du musst nicht ständig online sein und alle Updates von anderen überprüfen. Das kann dazu führen, dass man sich schnell schlecht fühlt. Man muss nicht ständig auf allen Social-Media-Plattformen präsent sein. Es ist gut, auf allen Plattformen ein Künstlerprofil zu haben, aber wähle zwei bis drei Plattformen, auf die du dich konzentrieren und auf denen du jeden Tag aktiv bist, anstatt sich auf alle zu konzentrieren. Ich nutze Instagram sehr viel und versuche, auf alle Nachrichten zu antworten, die mir Tipps, Ratschläge, Feedback schicken oder im Allgemeinen einfach nur quatschen wollen. Es kann sehr stressig sein und den Druck erhöhen, wenn man überall dabei sein muss.

Welche falschen Vorstellungen über das Leben eines erfolgreichen DJs/Produzenten möchtest du aufgrund deiner eigenen Erfahrungen widerlegen?

Tungevaag: Jeder denkt, dass Künstler/DJs immer Spaß haben, wenn sie Musik machen, durch die ganze Welt reisen, erfolgreich und reich werden. Die meisten Künstler und DJs arbeiten fast jeden Tag und denken rund um die Uhr über Musik, Produktion, Promotion, Planung und Strategien nach. Nimmt man die gesamte Zeit, die wir arbeiten und teilt sie durch die Anzahl der Stunden, entspricht das Gehalt in vielen Fällen wahrscheinlich dem eines durchschnittlichen Jobs. Wir arbeiten hart dafür, und das kostet viel Zeit.

Danke für deine ehrlichen Worte und das Interview, Martin!

Fotocredit: Tungevaag

DJ Mag Top 100 DJs Voting

Das DJ Mag Top 100 DJs Voting feiert dieses Jahr sein 30. Jubiläum und bietet dir bis zum 13. September die Chance, für deine Top 5 DJs abzustimmen. 2022 hat es Martin Garrix auf Platz 1 geschafft. Wer wird es 2023? Zum Voting kommst du auf vote.djmag.com.


Katrin Fuhrmann

Katrin Fuhrmann